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Interview mit Johanna Niesen @johanna.tabea

Johanna Niesen “Versorgt, verflochten, verstaubt, verwahrt”, 2024

Heute möchten wir euch ein wundervolles Biografie-Projekt aus unserer Community vorstellen.

Johanna Niesen hat letztes Jahr den Foto- und Schreibworkshop: “Vergängliche Fürsorge oder Sorge der Vergänglichkeit” mit Natalie besucht und dann bei der daraus entstandenen Ausstellung “DO YOU CARE?“ ihr Videoprojekt “Versorgt, verflochten, verstaubt, verwahrt” präsentiert, das sich auf tiefgreifende Weise mit dem Thema Haare und deren Symbolik für Fürsorge und Care-Arbeit beschäftigt.

Was oft als beiläufiger Teil des Alltags erscheint, hat in Johannas Familie eine besondere Bedeutung. Der Ursprung dieses Projekts liegt in einer persönlichen Geschichte: Ihre Großmutter bewahrte ihre abgeschnittenen Kindheitszöpfe über Jahrzehnte hinweg auf. Dieser Moment, als ihre Großmutter ihr die Zöpfe zeigte, diente als kreativer Funke für ihre Arbeit, die sich über fünf Generationen von Frauen in ihrer Familie erstreckt.

Wir haben Johanna viele Fragen zu ihrem Projekt gestellt und ihre Antworten könnt ihr nun hier lesen.

1. Was hat dich dazu inspiriert, Haare als zentrales Thema deines Videoprojekts zu wählen? Wie bist du auf die Idee gekommen, Haare als Metapher für Fürsorge und Care-Arbeit zu verwenden? Magst du deinen kreativen Prozess vielleicht auch allgemein beschreiben.

Haare sind Teil des Körpers, aber ein Teil, der abgeschnitten werden kann und keine Nerven hat, also nichts spürt – das macht sie für mich unglaublich spannend. Sie wachsen ständig weiter und versinnbildlichen Verflechtung und Verbindung. Sie wirken auf mich durch ihre Textur eine Faszination aus, sie in unterschiedlichem Licht fotografisch festzuhalten. Ich habe immer wieder Haare fotografiert, aber eben auch in Momenten der Interaktion, der Fürsorge von Familienmitgliedern untereinander, kleine Gesten – ein beiläufiges über die Haare- oder Haare-aus-dem-Gesicht-Streichen. Spannend fand ich auch die Tätigkeiten des Kämmens, des Flechtens und auch des Abschneidens von Haaren, die für mich alle in den Bereich der Care-Arbeit fallen.

2. Kannst du uns mehr über die biografischen und generationellen Aspekte deiner Arbeit erzählen? (Arbeit allgemein aber auch dein Video) Inwiefern spielt deine Identität eine Rolle in deiner Kunst, auch in der dokumentarischen Familienfotografie? Dein Videoprojekt beschäftigt sich mit dem Thema Haare über fünf Generationen von Frauen in deiner Familie. Was hat dich dazu inspiriert, diese biografische und generationsübergreifende Perspektive zu wählen? Welche persönlichen Erfahrungen hast du in dein Projekt einfließen lassen und wie hast es deine künstlerische Idee beeinflusst? Welche Rolle spielt die Biografiearbeit in deinem kreativen Prozess und wie hat sie die Entstehung deines Videoprojekts beeinflusst?

Das Thema Haare kann so vielschichtig sein – körperlich, wild, emotional und mit vielen Gesten verbunden. Zunächst habe ich mich intuitiv zu Haaren hingezogen gefühlt, dann habe ich angefangen dieses intuitive Interesse zu reflektieren und mit meiner Biografie und Familiengeschichte übereinander zu legen und bin darauf gekommen, dass gerade das Abschneiden von Haaren oft mit einem einschneidenden Erlebnis in der Biografie zusammenfällt und das Aufheben der abgeschnittenen Haare als Teil einer Erinnerungskultur, die die körperliche Ebene der Haare, als etwas was mal Teil des Körpers gewesen ist, widerspiegelt. Ausgelöst hat die Arbeit ein Besuch bei meiner Großmutter, die ihre Kindheitszöpfe aufbewahrt hat – all die Jahre – und sie mir zusammen mit einem Kinderfoto von sich selbst gezeigt hat. Diese Verbindung zu einem früheren, kindlichen Selbst und diese Verflechtung von ihrer und meiner Biografie – so wie auch die Verflechtung mit der meiner Mutter und meiner Tochter, das hat mich berührt und dazu angeregt mich fotografisch und künstlerisch damit tiefer auseinanderzusetzen.

3. Deine Arbeit thematisiert auch die Verflechtung und das Umeinander-Sorgen zwischen den Frauen deiner Familie. Wie hast du diese Beziehungen und Konflikte visuell dargestellt? Wie bist du vorgegangen?

In einigen Bildern sind die Haare auch mit Händen kombiniert – die Kombination aus Hand und Haar hat für mich etwas so Zärtliches und zerbrechliches, was mir durch die visuelle Ebene der Bilder jedes Mal nahe geht – so dass ich fast das Gefühl habe ich könnte den Moment mit den Fingerspitzen nachfühlen, wenn ich das Bild anschaue – ich möchte das die Stimmung in den Fotos so ist – das die Betrachter*innen den Moment nachfühlen können. Um den Fotos noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, habe ich angefangen sie digital zu übermalen und den Prozess des Übermalens mitgeschnitten. Das Überlagern der Fotos mit einer weiteren Ebene deckt die Komplexität dieser Beziehungen zwischen den Generationen auf und vertieft die Auseinandersetzung mit dem Material.

4. Der Prozess des Schneidens spielt eine zentrale Rolle in deinem Werk. Welche symbolische Bedeutung hat das Haarschneiden in den verschiedenen Generationen Ihrer Familie?

Abschneiden als Prozess versinnbildlicht hier auch einen Einschnitt in der Lebensgeschichte, eine Veränderung, ein „Cut“ im wahrsten Sinne des Wortes. Nach einem „Cut“ passiert dann etwas neues, eine neue Lebensphase. Solche Momente sind in jeder Generation zu finden, eine weitere Überschneidung, ist die, dass das Abgeschnittene aufbewahrt wird. Verwahrt als ehemaliger Teil des Körpers, als Symbol eines früheren Selbst und auch im Fall der Haare meiner Großmutter als Teil der Beziehung zu ihrer Mutter. Im Gespräch erzählte sie mir davon, wie berührt sie jedes Mal davon ist, dass ihre Mutter genau diese Zöpfe vor ungefähr 70 Jahren geflochten hat – eine Frau, die ich nie persönlich getroffen habe, sie ist wenige Jahre vor meiner Geburt verstorben, aber ihr Tun, ihre Sorgearbeit im Sinne des Flechtens ist auf eine Art noch in den Zöpfen meiner Großmutter aufbewahrt – in dieser kleinen Plastikdose, zwischen den Haaren und dem Staub von Jahrzehnten.

5. Die Fotografien in deinem Projekt transportieren die Körperlichkeit und die Fragilität des Moments. Kannst du mehr über die Mixed-Media-Technik und die Bedeutung der überlagerten Zeichnungen erzählen?

Mit der Entscheidung den Fotografien eine weitere, sich entwickelnde Ebene über den Vorgang des Überzeichnens hinzuzufügen, ergibt sich ein verbindendes Element, was sich wie Zeit oder Erinnerungen durch die Fotografien zieht, die sich aneinanderreihen – nicht linear, aber trotzdem aufeinander aufbauend. Die Überlagerung zeigt aber auch die Komplexität von Erinnerungsprozessen, wie Erinnerungen zu einem späteren Zeitpunkt von anderen regelrecht verdeckt werden können, oder so verzerrt, dass sie kaum noch zu erkennen sind. Die Mixed-Media-Technik ermöglicht mir hier, verschiedene Geschwindigkeiten in das Medium der Fotografie als Standbild bzw. Momentaufnahme zu bringen, die Langsamkeit des Verstaubens spielt eine Rolle, ebenso wie die der Moment des Abschneidens. Der Vorgang über das Zeichnen hat mir Zeitreisen ermöglicht und mir geholfen mich auf eine Art mit all diesen Generationen aus meiner Familie in Verbindung zu setzen, mich in ihnen wiederzuerkennen und eine eigene Identität dadurch zu reflektieren.

6. Kannst du bisschen was über den Workshop „Vergängliche Fürsorge oder Sorge der Vergänglichkeit“ erzählen und wie er dein Projekt beeinflusst hat?

Der Workshop hat mir den Anstoß gegeben mich mit dem Thema und den Fotografien in dieser Tiefe auseinanderzusetzen. Es war ein sehr inspirierender und geschützter Raum, in dem der Austausch untereinander und die Impulse durch euch die Gedanken zu dem Thema ins Rollen gebracht haben und mich ermutig haben dazu weiterzuarbeiten und mir auch die Zeit und den Raum in meinem Alltag für dieses persönliche Projekt zu nehmen. Denn zwischen Care-Arbeit und Erwerbsarbeit bleibt sehr selten Zeit für solche persönlichen, künstlerischen Projekte – ich muss sie mir ganz aktiv nehmen.

7. Welche Bedeutung hatte für dich die Teilnahme an der Ausstellung „Do you care?“ Wie war es für dich ein so persönliches Projekt mit einer Öffentlichkeit zu teilen?

Ich habe das Gefühl gehabt es nicht nur für mich zu teilen, sondern auch für die anderen Generationen aus dieser Erzählung – auch wenn die Themen und Einschnitte der Biografien unkonkret bleiben, habe ich trotzdem das Gefühl damit den Lebensgeschichten der Frauen meiner Familie Sichtbarkeit zu geben und ihnen so auch eine Wertschätzung dieser Lebensgeschichten durch dieses Projekt zu geben.

Danke Johanna, dass du deine Geschichte mit uns teilst.

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Wir hoffen, dass dieses Projekt dich auch so sehr inspiriert hat wie uns.

Hast du Lust in deine eigenen Biografie- und Familienarchive einzutauchen? wir unterstützen dich dabei! Am 05. April 2025 gibt es wieder die Möglichkeit unseren Kurs „Ich sehe mich“ in Augsburg zu besuchen.

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