BLOG
Interview: Sara Samson Grzybek
Fotograf*in, Autor*in, Lyriker*in, Podcasthost, Gründer*in von @queermed_deutschland

„Weil ich mich selbst anerkannt habe als aktiven Part in den Bildern von mir selbst. Und dieses Wiederfinden des eigenen Selbst, hilft mir jeden Tag in allem, was ich tue.“
1. Was war der Auslöser für dich, Fotografie als Medium zu nutzen, um mit deinen Emotionen und Traumata umzugehen? Wie kamst du zur Fotografie?
Es war nicht wirklich ein Auslöser, sondern ein Wiederfinden. Traumata haben mich sprachlos gemacht, hat mir die Kraft, den Mut und die Zuversicht genommen, über das Erfahrende sprechen zu können. Fotografieren habe ich in jungen Teenagerjahren für mich gefunden. Ich hatte ziemliche Schwierigkeiten Freund*innenschaften zu schließen, weil mich viele der Dinge von damals nicht interessiert haben. Dazu bin ich die meiste Zeit mit meiner alleinerziehenden Mutter, meiner Schwester und dem Freund meiner Mutter aufgewachsen, der ein starkes Alkoholproblem hatte und lange Zeit arbeitslos war. Die Kamera kam von meinem Vater, der seit meinem 13. Lebensjahr nicht mehr bei uns wohnte. Eigentlich ein sehr widersprüchliches Geschenk, worauf ich in diesem Zeitpunkt nicht genauer eingehen möchte.


Es war ein Hobby, das ich alleine machen konnte und was durch digitale Fotografie relativ kostengünstig war im Vergleich zur analogen Fotografie. Ich bin damals nach der Schule nahezu täglich jeden Tag unterwegs gewesen, in den Straßen von Mainz und habe fotografiert. Dinge, Szenen, die mich berührt haben. Kleine Dinge, riesige Szenen, Bewegungen, Strömungen. Dinge, die etwas in mir ausgelöst haben. Etwas, was ich damals nicht beschreiben konnte. Gezeigt habe ich meine Bilder irgendwann meinem Kunstlehrer in der Oberstufe. Wir haben jede Woche nach dem Unterricht über meine Bilder gesprochen. Er wollte unbedingt eine Ausstellung in den Schulfluren mit meinen Bildern machen. Ich habe abgelehnt. Ich habe nicht an mich geglaubt und dachte meine Bilder waren nicht gut genug. Irgendwann nach der Schulzeit, dem von zuhause abhauen, hat sich das Fotografieren etwas verloren, weil ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war und ich in einem reinen Arbeitsmodus verfallen bin.




2. In deinem Post über deine Polaroids erwähnst du, dass du lange sprachlos warst. Glaubst du, dass das Fotografieren, wie du es in deinen Selbstporträts praktizierst, hilft, diese Sprachlosigkeit zu überwinden, indem es unsichtbare Geschichten sichtbar macht?
Tatsächlich machen Selbstporträts aktuell den kleinsten Anteil meiner Bilder aus. Selbst Selfies gibt es vergleichsweise kaum, erst seit den letzten 2-3 Jahren immer wieder von mir. Ich habe mich damit ausprobiert, seit ich eine Polaroid habe.
Ich denke nicht, dass es um unsichtbare Geschichten geht. Trauma kann sich unterschiedlich in uns manifestieren. Dazu kommt meine noch relativ neu verstandene Neurodivergenz dazu, dass ich neben Trauma noch andere Diagnosen in mir trage, die mein Betrachten der Welt verständlicher als bisher machen. Ich reagiere sehr sensible auf visuelle Eindrücke. Bilder, Farben, Schatten. Alles mit Zahlen und Buchstaben, verliert sich in meinem Gehirn.
Traumatische Erlebnisse sind oft ein zusammengesetztes Bild aus Stimmen, Körpereindrücken, Gefühlen und Bildern. Bildern als Abdrücke von dem, was in meinem Kopf übriggeblieben ist als Erinnerung. Traumata sorgen dafür, dass dein Gehirn bestimmte Ereignisse nicht mehr so abspeichern kann, wie es bei Menschen ohne traumatische Erfahrungen ist. Wenn es dann bei dir in sehr jungen Jahren einsetzt, so wie bei mir ab 2-3 Jahren und sich nahezu im Dauerzustand durchgezogen hat, bis ich fast 20 Jahre alt war, dann verändert es komplett, wie du dich erinnerst und wie du denkst. Und ich habe mit nahezu niemandem gesprochen, was in diesem Zeitraum passiert ist.
Dementsprechend intensiv reagiere ich darauf, wie das Licht in einen Raum fällt, das Zusammentreffen von Farben, wie ein Wasserstrahl auf einen Stein aufprallt, wie sich ein bestimmter Stoff auf meiner Haut anfühlt und so weiter. Das ist alles meist deutlich intensiver als alles andere.
Fotografie oder in dem Fall Polaroids ermöglichen es mir, Worte in Situationen zu finden, für die ich (noch) keine Worte finden kann.
3. Welche Rolle spielt das Medium Polaroid in deinem kreativen Prozess? Warum hast du dich für diese Form entschieden, und wie trägt das gemeinsame Erstellen von Polaroids dazu bei, eine tiefere Reflexion über das eigene Selbst und Verbindungen zu ermöglichen?
Ganz ehrlich: Für Digitalfotografie habe ich mich zu untalentiert gesehen. Sehe ich mich immer noch, vor allem seit ich die Fotos einzelner Freund*innen sehe. Was auch absolut kein Maßstab ist, weil ich mich hier als Lai*in mit professionellen Fotograf*innen vergleiche. Aber: Mich schrecken diese ganzen Programme ab, mit denen Fotograf*innen arbeiten, um ihre Bilder zu bearbeiten. Mich überfordern die Knöpfe und Möglichkeiten und ich weiß nicht, wo ich anfangen müsste. Und eine neue Polaroid ist vergleichsweise günstiger als eine Hasselblad oder eine Mamiya. Bei den Kosten pro Abzug tut sich relativ wenig im Vergleich. Und bei der Polaroid ist es ja so: Du visierst etwas an, hältst die Luft an, drückst auf den Auslöser und das war es dann auch. Dann bist du mit Warten beschäftigt. Du musst keine Polaroids zur Entwicklung einschicken. Dem Aushalten der Zeit vom Auslösen bis zum Sichtbarwerden des Bildes. Ich kann sehr schlecht warten. Warten und Ungewissheit bedeuten Kontrollverlust, bedeutet Machtlosigkeit, bedeutet Vertrauen darin zu haben, dass du verstehst, wie die Kamera funktioniert.


Dass du verstehst, wie Licht und Blende und alle Aspekte der Kamerafunktionalität miteinander funktionieren können. Und einen Teil, das Ungewisse, das Unplanbare, dass musst du aushalten. Manchmal sind auch Polaroids anfällig auf Wind und Wetter. Manchmal habe ich sie wohl doch falsch gelagert. Dann entwickeln sie sich nicht. Teilweise sieht es aus wie kleine Blitze, die sich auf dem Fotopapier bewegen. Manchmal fehlen einfach Teile des Bilds, weil sich nicht alles entwickelt hat. Das erinnert mich sehr, wie mein Gehirn manchmal Erinnerungen abspeichert. Eben nicht vollständig. Das Fotografieren bringt mir bei, Geduld zu üben, Geduld mit den Begebenheiten in dieser Welt als auch mir gegenüber. Und zu akzeptieren, dass Dinge so passieren, wie sie nun mal passieren.
4. Du erwähnst, dass deine Fotografien dich durch das Jahr getragen haben. Welche Rolle spielen sie in deinem Alltag?
Letztes Jahr ist sehr viel passiert. Was ich eigentlich jedes Jahr sage. Aber seit Queermed, der Organisation, der ich gegründet habe und seit meiner Traumaaufarbeitung, breche ich jedes Jahr mit vielen alten Dingen, Bindungen und Menschen. Ich breche die verbarrikadierten Türen in mir selbst auf und bin auf der rastlosen Suche nach mir selbst. Nach einer Ruhe und nach Bindungen zwischen mit und anderen Dingen auf dieser Welt. Nach einer Resonanz. Nach einem Verständnis. Einem Wiedererkennen. Nach Räumen der Freude, der Trauer, der Liebe.
Ich arbeite seit der Gründung von Queermed sehr viel, weil ich eigentlich auch Vollzeit arbeite und dazu auch noch zusätzlich ehrenamtlich immer wieder tätig werde. Das neben der ganzen Traumaaufarbeitung, dazu eine langjährige Beziehung, in der ich mich selbst angelogen hatte und ich mich endlich letztes Jahr von lösen konnte. Und wieder mit der neuen Traumaaufarbeitung zu beginnen.
Ich habe wieder angefangen, mich stundenlang schweigend durch die Stadt zu bewegen. Das Fotografieren hilft mir mich zu konzentrieren, meine Gedanken und Gefühle wenigstens für ein paar Stunden auf mich zu richten. Andere Angelegenheiten niederzulegen. Und wieder zurück zu mir zu finden, in mich hineinzuhören, hineinzufühlen, versuchen zu verstehen, warum ich bestimmte Dinge fühle und andere Dinge nicht.
Das Besondere, was ich an den Polaroids finde: Ich kann mich an die Momente erinnern, als ich die Fotos gemacht habe. Erinnern in einem ganzkörperlichen Kontext. Ich weiß, wie es mir ging in dem Moment, ich weiß, wo es war, ich weiß, wann es war. Ich weiß, ob mir kalt oder warm war. Dass schaffe ich bei Fotos über mein Smartphone deutlich seltener.





5. Deine Werke sind sehr persönlich aber auch von kollektiver Wichtigkeit. Wie gehst du damit um, persönliche Momente mit der Öffentlichkeit zu teilen, und wie beeinflusst das Fotografieren die Art und Weise, wie du Verletzlichkeit darstellst?
Ehrlich gesagt fühlt es sich nicht an wie eine kollektive Wichtigkeit an. Was ein Trugschluss sein kann, weil ich bis auf einzelne Stimmen wenig Rückmeldung auf meine Bilder über Social Media erhalte. Metriken wie Likes und Kommentare müssen da nicht unbedingt etwas bedeuten. Das ist aktuell der einzige Ort, wo ich die Bilder zeige.
Allgemein gehe ich sehr offen mit meinen persönlichen Erfahrungen um. Weil ich es auch zum Teil leid bin, auf welche Art und Weise wir mit persönlichen Themen umgehen. Mir fehlen Resonanzen, weil ich ab und an nicht weiß, wie neurotypische Menschen, Menschen ohne langjährige Traumata auf bestimmte Dinge reagieren. Was ihnen wichtig erscheint. Warum sie auf bestimmte Ereignisse so oder so reagieren. Ich kann es mir rational erklären. Aber viele Dinge bleiben immer noch häufig unsichtbar und unbeantwortet.


Ich habe angefangen über diese Themen, die mir am Herzen liegen, zu sprechen, weil ich mich so gut wie nie da draußen gesehen habe. Immer sah ich meist westliche, weiße, normschöne, heteronormative Menschen, die sich neurotypisch verhalten haben. Wo waren Menschen wie ich? Gleichzeitig habe ich mich in vielen queeren Bubbles nicht gesehen, egal wie oft ich neue Bubbles ausprobiert habe. Und ich dachte mir, wenn ich es einfach so mache, über Instagram als auch meine Texte über Substack, vielleicht findet sich zumindest eine Person wieder. Dann hätte ich zumindest jemanden erreicht.
6. Wie möchtest du, dass Betrachtende deiner Polaroids auf die Verbindung zwischen Trauma, Heilung und kollektiven Geschichten reagieren bzw. empfinden? Was würdest du dir wünschen, was sie daraus mitnehmen?
Es liegt nicht in meiner Hand, wie andere Menschen reagieren. Diesen Teil menschlicher Interaktion kann ich nicht kontrollieren. Das möchte ich auch nicht. Wenn es etwas in ihnen auslöst, dann ist das gut. Wenn sie sich dadurch ebenfalls in ihrem eigenen Trauma, in ihrem eigenen Heilungsprozess sehen, dann ist das wunderschön. Sichtbarkeit im Gegenüber kann eines der schönsten Momente sein. Weil es auch heißt, man ist weniger einsam. Zumindest für einen kleinen Augenblick.
7. Warum wählst du Selbstporträts als Ausdrucksform, und was ermöglichen sie dir, das andere fotografische Formate nicht leisten können, besonders im Kontext von Trauma und Heilung?
Wie bereits oben erwähnt, machen Selbstporträts einen Bruchteil meiner Bilder aus. Ich habe sehr lange kaum Bilder von mir gemacht. Auch, weil ich sehr lange unglücklich mit meinem Körper war. Was sicherlich auch mit meinem langen Weg zu tun hatte, bis ich mich in der Nicht Binarität wieder gefunden habe. In der Akzeptanz der Nichtakzeptanz äußerlicher Kategorien, einem Finden von Gendereuphorie. Aber auch aus anderen Gründen. Weil ich Bilder von mir lange Zeit mit Täterschaft und Gewalt in Verbindung gebracht habe. In Bildern kannst du sehr einfach einem Objekt gemacht werden. Ich habe früher als Kind und jugendlicher Mensch sehr viele Bilder von mir zerstört. Ich konnte mich selbst nicht auf diesen Bildern ansehen. Es gibt daher kaum noch Bilder von mir. Ich selbst habe nur eine Handvoll von Bildern, die ich selbst nur mit größter Anstrengung betrachten kann. Die Selbstporträts waren ein Herantasten, ein Wiedererlangen von Kontrolle und Macht in diesen Augenblicken. Gleichzeitig hat tatsächlich auch die Zusammenarbeit mit einer Fotografin, die zu einer Freundin geworden ist, geholfen, anzuerkennen, wie ich mich räumlich von außen betrachten kann. Es hat immense Barrieren in meinem Kopf gelöst. Weil ich nicht mehr Angst hatte, von einer Kameralinse betrachtet zu werden. Weil ich Angst verloren habe vor dem Menschen hinter der Kameralinse. Weil ich mich selbst anerkannt habe als aktiven Part in den Bildern von mir selbst. Und dieses Wiederfinden des eigenen Selbst, hilft mir jeden Tag in allem, was ich tue.

Du willst dich selbst erkennen und wiederfinden ?
Komme in unseren Kurs ICH SEHE MICH. Hier beschäftigen wir uns mit unserem SELBST und wie wir dieses Wissen nutzen können um uns weiter zu entwickeln.